Laut jüngsten Ergebnissen der Stiftung Lesen wird aktuell nur noch 61 Prozent der Kinder im Alter von ein bis acht Jahren regelmäßig vorgelesen. Ein deutlicher Rückgang seit dem Jahr 2019. Und ein höchst besorgniserregender Befund: Regelmäßiges Vorlesen bei Kindern vergrößert den Wortschatz, steigert die Konzentrationsfähigkeit und erweitert das Vorstellungsvermögen. Wem als Kind selten bis nie vorgelesen wird, hat es später häufig schwerer in der Schule, erlangt vielfach niedrigere Bildungsabschlüsse und seltener hochqualifizierte Berufe. „Lesen ist gut für Sprache und Sprache ist etwas ganz Wichtiges“, stellt Petra Lacorte, Leiterin des Kindergartens Regenbogenland Sankt Michael in Aschaffenburg, fest.
Wie sähe die Zukunft einer Gesellschaft aus, die sprachliche Bildung zunehmend vernachlässigt? In der die Entwicklung begrifflicher Vielfalt verkümmert? In der die Kreativität immer weiter abnimmt? Wer entwickelt dann neue medizinische Verfahren? Wer tüftelt nie gedachte Wege nachhaltiger Energieversorgung aus? Wer schafft ästhetische Begegnungen, die den Erfahrungen einer Gesellschaft Ausdruck verleihen?
Kitas seien entscheidende „Schlüsselakteure in der Leseförderung“, so die Stiftung Lesen. Sie können und sollen also zu einem gewissen Grad ausbalancieren, was bei den Kindern daheim nicht oder nicht ausreichend gegeben ist. Orte, in denen sich die Zukunft unseres Landes entscheidet. Orte, deren Aufgabenvielfalt beständig zunimmt, freilich im Gegensatz zu den personalen Kapazitäten, die für diese demokratiesichernden Aufgaben notwendig wären.
Aus diesem Bewusstsein heraus schufen einige OberstufenschülerInnen des Friedrich-Dessauer-Gymnasiums das Projekt „Erzähl mir eine Geschichte: Lesen für Gemeinschaft“. Ein ganzes Jahr entwickelten sie diese Leseoffensive: Literatur zum professionellen Vorlesen recherchieren, spannende Texte auswählen, interessierte SchülerInnen gewinnen, einen Workshop für die LesepatInnen organisieren, Kindergärten kontaktieren. Am 16.11. war es dann so weit: 45 geschulte SchülerInnen im Alter zwischen 14 und 19 Jahren reisten durch Aschaffenburg, Sulzbach, Mainaschaff, Kleinostheim und Stockstadt, um knapp 300 Kindern Geschichten von Geburtstagsfeiern mit hexischer Überraschung und von Piratenschätzen voller Bücher vorzulesen.
„Dabei haben wir mit diesem überwältigenden Interesse unserer SchülerInnen zunächst gar nicht gerechnet. Die Umsetzung des Projektes erwies sich daher als anspruchsvolle Herausforderung. Letzten Endes war es aber aufgrund des großartigen Engagements der OrganisatorInnen des Projektseminars möglich, alle Interessierten in das Projekt einzubinden“, lobt die verantwortliche Lehrkraft Dr. Dominik Banhold den Einsatz seiner SchülerInnen. Leonie Bürger, eine der ProjektorganisatorInnen, ergänzt: „Das Projekt war am Ende ein Gemeinschaftserlebnis auf verschiedenen Ebenen. Schon der vorbereitende Workshop brachte SchülerInnen aus ganz verschiedenen Jahrgangsstufen an einem Tisch zusammen. Dort wurde ihnen beigebracht, wie man gut vorliest, wie man sich mit Kleinkindern über Geschichten austauschen kann und wie das Vorlesen insgesamt zu einem spannenden Erlebnis für die Kinder wird.“
Der Besuch in den Einrichtungen bot schließlich völlig neue Erfahrungen. „Die Aktion war ein großer Erfolg. Die Kinder wurden richtig von den Geschichten mitgenommen und haben sich total für die LesepatInnen begeistert. Selbst diejenigen, die anfangs noch etwas unkonzentriert waren, wurden Stück für Stück von der Magie der Erzählungen in den Bann gezogen. Einige haben sogar noch Bilder zu den Abenteuern gemalt. Und nicht nur viele LesepatInnen sondern auch die Kindergärten haben direkt im Anschluss gefragt, wann die nächste Vorleseaktion stattfinde“, beschreibt Projektorganisator Paul Scheifele die Erlebnisse. Und damit sind wir wieder bei den Gründen für das Projekt angelangt. Kinder wollen Geschichten hören, sie wollen den Zauber ihrer Fantasie erfahren. Geschichten erzählen, aus Büchern vorlesen, schafft für einen kleinen Zeitraum eine gemeinsame Reise in eine unbekannte Welt, während der man Spannung und Erleichterung, Trauer und Freude miteinander teilt.
Großer Dank gilt den teilnehmenden Institutionen, den Kindergärten und dem Kinderklinikum sowie insbesondere den LesepatInnen, die sich in ihrer Freizeit für „Lesen für Gemeinschaft“ einsetzen.
Der Artikel wurde verfasst von den ProjektschülerInnen des Journalismus-Seminars am FDG.